500 Millionen überflüssige Kleidungsstücke – das Desaster für den Handel ist perfekt

Die Bekleidungsbranche steht wegen des verlängerten Lockdowns zunehmend mit dem Rücken zur Wand. Viele werden ihre Ware nicht mehr los. Dem Modehandel bleibt jetzt nur noch eine Option, von der Verbraucher zumindest kurzfristig profitieren können.
Der zweite Lockdown entwickelt sich zum Desaster für die Bekleidungsbranche. „Er wird zahlreiche Modegeschäfte, Schuhläden und Kaufhäuser in den Ruin treiben“, sagen die Handelsverbände der betroffenen Sparten voraus.
Auch für die Umwelt hat die lange Schließungsphase absehbar Folgen. Durch den verlängerten Lockdown wird sich nach Schätzungen der Handelsverbände Textil (BTE), Schuhe (BDSE) und Lederwaren (BLE) im stationären Handel bis Ende Januar eine riesige Lawine von einer halben Milliarde unverkaufter Modeartikel auftürmen.
Während die Verbände die Politik wegen ausbleibender Erfolge in der Pandemiebekämpfung kritisierten, weisen Umweltschützer der Branche ein Stück Mitverantwortung zu. „Mit ihren grotesk beschleunigten Zyklen hat die Fast-Fashion-Industrie in der Pandemie Millionen unverkaufter T-Shirts, Hosen, Schuhe und anderer Kleidung zu Wegwerfartikeln degradiert“, sagte Greenpeace-Konsumexpertin Viola Wohlgemuth WELT.
„Meine Ressourcen, finanziell und energetisch, sind am Ende“

Bund und Länder haben die Verlängerung und Verschärfung der Corona-Maßnahmen beschlossen. Unter anderem soll der Bewegungsradius in Corona-Hotspots auf 15 Kilometer beschränkt werden. Was sagen die Deutschen? Nachgefragt in Berlin und Frankfurt.
Wenn dieser Berg wertvoller Produkte nun vernichtet zu werden drohe, unterstreiche dies „die Obszönität“ eines großen Teils der Modebranche. „Wie können in einem Land mit 82 Millionen Menschen in ein paar Wochen 500 Millionen unverkaufte Kleidungsstücke anfallen? Braucht jede und jeder Deutsche sechs weitere Wintermäntel?“, fragte Wohlgemuth rhetorisch.
Zwar rechnen sich viele inhabergeführte Kleidungsgeschäfte gerade nicht zu den Unternehmen der sogenannten Turbomode, die Beschleunigung der Verkaufszyklen wirkt sich aber auch auf sie aus. Statt Kleidung mit einer permanent verkürzten Halbwertszeit zu entwerten, müsse die Modeindustrie die Corona-Krise zur Entwicklung von Geschäftsmodellen nutzen, die einer Verschwendung von Ressourcen vorbeugten und keine falschen Bedürfnisse schürten, forderte Wohlgemuth.
Schon in Normaljahren summiert sich die Menge der überflüssigen Kleidungsstücke in Deutschland auf einige Hundert Millionen. Etwa jedes zehnte Stück bleibt nach Einschätzung von Experten unverkauft – weil es den Geschmack der Kundschaft nicht trifft, weil es zu spät geliefert worden ist, weil es leichte Mängel aufweist oder weil es sich trotz Preisnachlässen nicht mehr losschlagen lässt.

Denn Mode gilt als leicht verderbliche Ware. Kaum sind die neuen Looks bei Blusen, Jacken oder Sneakers verfügbar, erweisen sich die vorangegangenen Kollektionen regelmäßig als Ladenhüter.
Die wirtschaftlichen Schäden des Lockdowns sind nach Darstellung der Handelsverbände ebenfalls gravierend. Für das abgelaufene Jahr sei ein „historischer Umsatzeinbruch“ in der Größenordnung von 30 Prozent zu erwarten, sagte BTE-Chef Rolf Pangels. „Da die Kosten und vor allem der Wareneinkauf durch die langen Vorlaufzeiten in der internationalen Lieferkette kaum angepasst werden konnten, stehen viele Geschäfte nunmehr vor dem endgültigen Aus“, fürchtet er.
Der Handelsverband Deutschland (HDE) hatte erst Anfang der Woche in einem Brandbrief an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewarnt, 50.000 Geschäfte mit zusammen 250.000 Arbeitsplätzen steckten in Existenznot. Wie der HDE rufen nun auch die Fachverbände nach mehr finanzieller Unterstützung. Die bisher angebotenen Hilfen seien „absolut unzureichend“, beklagt Pangels. Allein die Umsatzverluste des Winter-Lockdowns dürften sich bis Ende Januar auf zehn Milliarden Euro summieren.
Kurzfristig könnten die Verbraucher von einer Pleitewelle im Modehandel sogar profitieren. Zu erwarten ist eine Rabattschlacht sondergleichen, falls die Geschäfte wieder öffnen. Dabei können sich die Modehändler diese Nachlässe eigentlich nicht leisten, denn mit Rabattware lässt sich wenig oder nichts verdienen.
Ohnehin sind viele Ladenbetreiber durch den ersten Lockdown im Frühjahr bereits angeschlagen. „Der Modehandel steht vor einem großen Dilemma“, sagt BTE-Vertreter Axel Augustin. „Betriebswirtschaftlich können sich die Unternehmen hohe Rabatte nicht erlauben. Ohne Nachlass kommen aber keine Kunden. Und dann stehen den laufenden Kosten für Ware, Miete und Mitarbeiter keine entsprechenden Einnahmen gegenüber.“
Zugleich drängen neue Waren in die Lager- und Regalplätze, denn im Januar und Februar treffen aus Asien bereits die Teile der Frühjahrskollektionen ein. Gleichzeitig liegt in den Lägern aber auch noch Ware aus der Lockdown-Zeit im Frühjahr, zumindest die zeitlosen Teile. „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagt Augustin.
Zwar ist die Frühjahrskollektion die erste überhaupt, die unter dem Eindruck der Corona-Pandemie bestellt wurde. Die Ordermengen liegen also deutlich niedriger als bei vorherigen Bestellungen. Dennoch bereitet die Bezahlung der bestellten Mengen vielen Händlern angesichts der fehlenden Liquidität aus laufenden Verkäufen Schwierigkeiten, denn bezahlt werden die Kollektionen üblicherweise mit den Umsätzen der vorangegangenen Wochen und Monate.