Die Konzernverantwortungsinitiative verpflichtet Schweizer Unternehmen, Mensch und Umwelt zu respektieren. Auch im Ausland, inklusive ihrer Tochtergesellschaften. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Weshalb streiten wir dann?

Der Atlantik vor der galicischen Küste riecht nach Öl, er ist schwarz, so weit das Auge reicht. Papageientaucher versuchen ihre verklebten Flügel zu bewegen, vergeblich. Ab und an öffnen sie ihre orangefarbenen Schnäbel. Bis auch das nicht mehr geht. Neben mir eine lange Reihe von Fischern, in den Händen nichts als Gartenrechen, mit denen sie den zähen Schlick in Kübel zu hieven versuchen. Eine Sisyphusarbeit; denn jede Welle bringt noch mehr Öl. Sie arbeiten ohne Handschuhe und ohne Atemschutz. Einige fluchen, einige weinen, einige übergeben sich. Irgendwo hinter dem Horizont löst sich derweil der Tanker «Prestige» in seine Teile auf. Eine einzelne übergrosse Welle genügte, um das altersschwache Schiff zu zerbrechen.

Es ist November 2002. Ich bin hier, um aus nächster Nähe darüber zu berichten, wie Verantwortungslosigkeit aussieht. Die «Prestige» hatte 77’000 Tonnen Very Heavy Fuel Oil vom Typ IFO 650 an Bord. Anders gesagt: 77’000 Tonnen Raffinerieabfälle und damit die übelste Brühe, die man sich vorstellen kann.

Am Abend im Hotelzimmer, die Luft penetrant nach Benzol riechend, schreibe ich die Chronik einer angekündigten Katastrophe. Von draussen sind Stimmen zu hören. «Nunca máis!», schreien sie. Nie mehr wieder! Es sind Tausende von Küstenbewohner*innen, die sich in den Strassen der Hafenstadt Muxía versammelt haben.

Und wieder einmal steht die Schweiz im Mittelpunkt.

Das Öl gehört der Firma Crown Resources AG, registriert an der Gotthardstrasse 2 in Zug. Kein Konzern, aber ein KMU, das in einem Hochrisikobereich tätig ist und deshalb aus heutiger Sicht unter die Bestimmungen der Konzernverantwortungsinitiative fällt. Der Chef der Crown Resources AG ist gleichzeitig Präsident der Luzerner Zunft zu Safran. Für den Transport des Öls hat der «sympathische Mann», wie es in der Zunftchronik heisst, das billigste Schiff auf dem Markt gechartert, im Besitz einer windigen Briefkastenfirma mit Sitz in Monrovia und von einer griechischen Reederei verwaltet, deren Eigner sich nach dem Untergang der «Prestige» mit einem – möglicherweise gefälschten – Totenschein aus der Verantwortung stiehlt. Resultat ist eine der grössten Umweltkatastrophen Europas.

Nach dem Untergang der «Prestige» bricht an der Gotthardstrasse 2 Hektik aus. Nicht nur, weil Greenpeace mehrere Fässer Öl in den Hauseingang kippt. Die Verantwortlichen der Crown Resources AG lassen auf dem Handelsregisteramt den Namen ihres Unternehmens ändern. Adresse und Verwaltungsrat bleiben. Die Firma heisst nun ERC Trading. Dann gehen sie wieder zur Tagesordnung über. Als 2004 klar wird, dass der Fall in Spanien vor Gericht kommt, bricht erneut Hektik aus. Die Firma rettet sich 2007 in den Konkurs. Was mit ihren 91 Millionen Aktienkapital geschieht, wird nie öffentlich. Die Kosten der Katastrophe von 4,3 Milliarden Euro bleiben zum grössten Teil am Staat, also an den Steuerzahlern, hängen.

Seither verfolge ich akribisch alle Versuche von Regierungen und internationalen Organisationen, gegen das orchestrierte Versagen anzugehen.

Bereits 1976 erlässt die OECD Leitsätze für Multis bezüglich Corporate Social Responsibility, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Katastrophe von Seveso. Damals entweichen aus einer Fabrik in der Lombardei mehrere Kilo hochgiftiges Dioxin. Die Fabrik gehört einer Tochter der schweizerischen Givaudan, die wiederum eine Tochter von Hoffmann-La Roche ist. Als die Verantwortlichen aus der Schweiz anreisen, geben sie gemäss WOZ folgende Direktive bekannt: «Die Sache wird im engsten Kreise gehalten; Givaudan und Roche werden nicht erwähnt. Dass TCDD [Dioxin] gebildet wurde, wird nicht erwähnt. Alles klar?»

2000 erfolgt der nächste Versuch, die Konzerne zu einem verantwortungsbewussteren Verhalten zu bewegen. Die Uno geht mit den Unternehmen im Interesse einer sozialeren und ökologischeren Globalisierung weltweit einen Pakt ein, nicht zuletzt unter dem Eindruck von Bhopal. 1984 explodiert in der indischen Stadt eine Chemiefabrik; sie gehört dem US-Konzern Union Carbide. Mindestens Zehntausende Menschen sterben, Hunderttausende erkranken. Union Carbide, inzwischen im Besitz von Dow, weigert sich bis heute, die in der Giftgaswolke freigesetzten Reaktionsprodukte zu benennen, weshalb die erkrankten Menschen nicht adäquat medizinisch behandelt werden können.

Elf Jahre später notiere ich einen dritten Anlauf in Sachen Konzernverantwortung. Die Vereinten Nationen setzen die «Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte» in Kraft. Nicht zuletzt wegen LafargeHolcim, dem weltweit grössten Zementkonzern mit Sitz in der Schweiz. Greenpeace hat in 34 Ländern mit Niederlassungen des Konzerns 122 Fälle von unternehmerischem Fehlverhalten gefunden, für die LafargeHolcim direkt verantwortlich ist oder Verantwortung übernehmen müsste. Dabei geht es um Luft-, Boden-, Gewässer- und Trinkwasserverschmutzung, illegalen Abbau, illegale Sondermüllverbrennung, Überschreitung der Emissionsgrenzwerte, schlechte Überwachungsstandards, Lärmbelästigung, Gesundheitsgefährdung, Verstoss gegen Arbeits- und Gewerkschaftsrechte, Kinderarbeit, Menschenrechtsverletzungen, regulatorische Verstösse, Steuerhinterziehung, Kartellabsprachen, Korruption bis hin zu Terrorismus-Unterstützung …

Das LafargeHolcim-Werk der Cimencam S.A. direkt hinter einem Wochenmarkt im Norden Kameruns verschmutzt die Umwelt mit Staub. © Christoph Fischer

Die Fakten sind klar, die Ziele der diversen Vereinbarungen ebenso, doch die Wirkung bleibt bescheiden. Eine kürzlich veröffentlichte Studie von Brot für alle weist nach, dass in der Schweiz gerade mal jedes zehnte Unternehmen begonnen hat, die Uno-Leitprinzipien umzusetzen. Entsprechend verfügen fast zwei Drittel der grössten Unternehmen hierzulande weder über einen Verhaltenskodex noch über eine Menschenrechtspolitik. Umso besser verstehen sich die Konzerne darin, wohltönende Beteuerungen zu verbreiten. «Bis 2030 streben wir Null‑Umweltbelastung in unseren Betrieben an», schreibt etwa Nestlé. Oder Syngenta: «Wir möchten an all unseren Standorten die Auswirkungen unserer Tätigkeit auf die Umwelt minimieren.» Und der umstrittene Rohstoffhändler Glencore sagt fast identisch: «Wir minimieren unsere Auswirkungen auf die Umwelt, wo immer wir tätig sind.»

Weshalb diese Diskrepanz zwischen Wort und Tat? Weshalb ist es so schwierig, Konzerne zu einem korrekten Umgang mit Menschen und Umwelt zu bewegen?

Als Kinder lernten wir alle, Verantwortung zu übernehmen. Das kleine Geschwister hüten. Die Katze füttern. Die Pflanzen giessen. Wir verstanden Verantwortung als Ehre, wir reiften mit und an der Verantwortung. Und wenn wir etwas verbockt hatten, lernten wir, dafür einzustehen. Eine Frage des Anstands. Vorbilder waren unsere Eltern. Indem sie uns grosszogen, bewiesen sie uns, was die Übernahme von Verantwortung ermöglicht. Wir erkannten: Wenn alle füreinander Verantwortung tragen, dann entsteht ein tragfähiges Netz. Dann funktioniert die Gesellschaft.

Aber Verantwortung war auch eine Bürde, mühsam und anstrengend. Und so suchten wir nach Wegen, um den auferlegten Verpflichtungen zu entgehen. Darunter mussten jene leiden, die sich nicht wehren konnten. Die Katze fand ja keine Möglichkeit, sich zu beklagen, wenn wir sie vergassen. Die Pflanze hielt – meistens – durch. Die Rechnung war simpel: Wenn es gelang, sich der Verantwortung zu entziehen, ohne dass die Sache schiefging, gab es keinen Grund, Verantwortung zu übernehmen. Das Bewusstsein dafür geriet mehr und mehr in den Hintergrund, so wie die Demenz mehr und mehr den Verstand verdrängt. Wir begannen die Grundidee des Prinzips Verantwortung zu vergessen: stark schützt schwach.

Wir alle lernen in unserem Leben einmal, Verantwortung zu übernehmen. © Christoph Fischer

Was wir aber nicht vergassen: dass fehlendes Verantwortungsbewusstsein seinen Preis haben kann. Weshalb wir uns gegen die Folgen abzusichern begannen. Das heisst, wir fanden Wege, uns der Gefahren zu entledigen, die wir selbst provozierten. Wir erfanden die Versicherungen und delegierten unser Verantwortungsbewusstsein an sie, damit gleichzeitig auch unsere Verpflichtung zu Rücksichtnahme und Sorgfalt. Die Versicherungen erfanden die Rückversicherungen. Daraus entstand schliesslich jenes kaskadenartige System von käuflicher Verantwortung, das immer grössere Risiken tragbar macht. Diese Risiken werden zur Basis für Verletzungen von Menschenrechten wie auch für Verstösse gegen Umweltschutzstandards, und sie sind die Basis für Katastrophen von der Grössenordnung Bhopals.

Deshalb kommt nun am 29. November die Konzernverantwortungsinitiative zur Abstimmung. Sie hat das Potenzial, endlich ein paar Dinge zurechtzurücken. Konzerne mit Sitz in der Schweiz sollen auch im Ausland dafür haften, wenn sie oder ihre Tochterfirmen die Sorgfaltspflicht nicht wahren und dadurch Menschenrechte und internationale Umweltstandards verletzen. Konkret: Wird die Initiative angenommen, kann ein peruanischer Bauer künftig gegen einen Konzern mit Sitz in der Schweiz klagen, wenn der Konzern mit seinen Abwässern die Felder des Bauern vergiftet. Die Hürden dafür sind zwar hoch – der Kläger muss nicht nur einen ihm widerrechtlich zugefügten Schaden nachweisen, sondern auch einen Zusammenhang mit den Tätigkeiten eines Schweizer Konzerns oder dessen Tochterfirmen –, doch allein die Klagemöglichkeit hat zur Folge, dass die Unternehmen künftig Sorgfaltsprüfungen durchführen und ihre Projekte auf Risiken durchleuchten werden, bevor sie loslegen. Mit anderen Worten: Die Konzerne können nun endlich zeigen, dass sie «concerned» sind – dass sie sich sorgen und besorgt sind.

Das ist gut so; denn für Menschen im Ausland gelten die gleichen Massstäbe wie für die Menschen in der Schweiz. Ihre Gesundheit ist ebenso wichtig wie unsere Gesundheit. Verseuchtes Wasser und vergiftete Luft richten ausserhalb unseres Landes die gleichen Schäden an. Alles andere macht keinen Sinn. Oder anders gesagt: Alles andere ist für Menschen mit auch nur einem Funken Ethik unvorstellbar.

Die Initiative zielt dabei nur auf die schwarzen Schafe unter den Schweizer Unternehmen. Dass es nur wenige sind, sagen nicht nur die Initianten. «99 Prozent» der schweizerischen Konzerne würden keinen Anlass zu Kritik geben, erklärt CVP-Präsident Gerhard Pfister als einer der vehementesten Kritiker der Vorlage. Wenn das so ist, weshalb dann der grosse Widerstand? Weshalb bekämpfen die Gegner dann die Vorlage mit so viel Geld, dass ihre Argumente bei der Google-Suche «Konzernverantwortungsinitiative» an erster Stelle kommen, noch vor den Voten der Initianten? In den Augen von Pfister & Co. ist doch alles gut.

Wie auch immer. Die Initiative kommt nun zur Abstimmung, und sie überzeugt so sehr, dass sie eine breite Koalition hinter sich vereinigt. Die Hilfswerke stehen dafür ein. Die Kirchen. Über 300 besorgte Unternehmer und Unternehmerinnen. Politikerinnen und Politiker von SP, Grünen, GLP, CVP, EVP, BDP, FDP und EDU. Sogar in meinem als erzkonservativ geltenden Wohnort, Meilen an der Zürcher Goldküste, flattern von vielen Balkonen Fahnen mit dem «Ja!».

Und sogar vonseiten der SVP wird es Ja-Stimmen geben. «Mir ist es scheissegal, was Christoph Blocher sagt», gibt Jérôme Desmeules als Generalsekretär der SVP Unterwallis gegenüber dem katholischen Mediendienst zu Protokoll. Wenn man den Initiativtext lese, so Desmeules, dann kapiere man: «Es geht um Ethik. Es geht um Menschenrechte. Es geht um die Frage: Welche Werte sind uns in der Schweiz wichtig? Ich habe klargemacht: Wir können es nicht hinnehmen, dass Unternehmen im Ausland Sachen machen dürfen, die in der Schweiz verboten sind.»

Genau. So einfach ist es.

Christian Schmidt

PS. Die Konzernverantwortungsinitiative kann Katastrophen verhindern – und damit auch ihre Spätfolgen. Die galicischen Fischer standen über Monate in den Raffinerieabfällen des Tankers «Prestige». Das Schweröl gilt als krebserregend. Krebs zeigt sich oft erst 20 Jahre später, also jetzt.

PPS. Bis die Katastrophe von Bhopal juristisch aufgearbeitet war, dauerte es 25 Jahre. Die sieben Verantwortlichen wurden zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von 2100 Dollar verurteilt. Ein groteskes Urteil. Es macht klar, dass es nicht genügt, Unternehmen nur am Ort des Geschehens gerichtlich zu verfolgen, sondern auch am Ort ihres Sitzes. Genau das will die Konzernverantwortungsinitiative.

Text: Christian Schmidt ist freischaffender Journalist mit Schwergewicht auf ökologischen Themen. Verschiedene Auszeichnungen.

Illustrationen: Christoph Fischer ist seit 2002 selbständiger Zeichner und Illustrator mit Atelier am Kreuzstutz in Luzern. Er arbeitet unter anderem für die NZZ, WOZ und DIE ZEIT.